27. Februar 2020
Mit Kindern kennt Picasso sich bestens aus. Seit fast drei Jahrzehnten hat er mit ihnen zu tun. Er kann von Jungs berichten, die überrascht sind, wenn sie erfahren, dass die Milch im Tetrapack ursprünglich von der Kuh kommt. Oder von Mädchen, die sich wundern, warum Hagebutten nicht wie Getreide auf dem Feld wachsen. Und von Kindern, die sich fragen, ob das abgelegene Jetzendorf noch in der gleichen Zeitzone liegt wie Dachau oder München. Knapp 30 Jahre lang hat Picasso mit Kindern gearbeitet, die in der Stadt leben und sich in den Ferien einmal anschauen wollen, wie das so ist auf dem Land mit echten Tieren und echten Abenteuern.
Denn Picasso ist ein pädagogisches Pferd in Diensten des Vereins Echo e.V. Der wiederum veranstaltet Ferien- und Freizeitprogramme für Kinder hauptsächlich aus dem Landkreis Dachau, aber auch aus Pfaffenhofen und sogar aus dem gut eine Fahrstunde entfernten München. Heute sieht Picasso Kinder nur noch aus sicherer Entfernung und genießt seinen Ruhestand. Die anderen Pferde aber, Hobbit zum Beispiel oder Lajosh, bekommen in diesen Tagen wieder viel Besuch. Sechs bis 13 Jahre alt sind die Kinder, die in Jetzendorf lernen sollen, dass Pferde mehr sind als die Tiere, die sie von Volksfesten kennen. Dass ihre Ställe ausgemistet werden müssen, dass man sie striegeln muss, dass sie mit Babyshampoo gewaschen werden, dass sie Streicheleinheiten genießen, dass sie ihre Freiheit lieben und nicht immer nur im Kreis gehen wollen.
Seit vier Jahren betreibt der Echo e.V. seine Naturstation „Schafflerhof“ bei Jetzendorf, ähnliche Projekte hat es vorher schon an anderen Orten gegeben. Der Verein engagiert unter dem Leitbild „Es ist normal, verschieden zu sein“ in der kulturellen Bildung, in der Inklusion und der Erlebnispädagogik. Er bietet ein Freizeitzentrum, eine Zirkusschule, Beautytage für Mädchen, einen Musikspielbus, Erwachsene können Thai Chi lernen oder töpfern. Und er bietet genau das, was so viele Eltern händeringend suchen: eine Ferienbetreuung für Kinder.
Die Rechnung ist einfach: 14 Wochen sind die Schulen im Jahr geschlossen. Mit 30 Tagen Urlaub, die die meisten Arbeitgeber gewähren, lässt sich diese Zeit unmöglich abdecken. Wenn beide Eltern berufstätig sind, müssen die Ferien also gut organisiert sein. Schon zu Weihnachten, so berichten Mütter wie Väter, geht die Jahresplanung in die entscheidende Phase. Wann fährt die Familie gemeinsam in den Urlaub? Wann können Oma und Opa übernehmen, wie teilen die Eltern sich die Ferien auf? Und welche Tage müssen dann noch mit Ferienprogrammen abgedeckt werden? Viel Detailarbeit also, die starke Nerven und Durchhaltvermögen erfordert.
Am Angebot scheitert es nicht. Sport, Kunst, Ausflüge oder einfach nur spielen, verschiedene Anbieter decken fast jedes Interessensgebiet ab. Die Stadt Dachau bietet Skatekurse an ebenso wie Brotbacken, einen Tag auf dem Obergrashof oder Paddeln am Ammersee. Das Technische Hilfswerk zeigt, was es alles so macht. Das Taekwon-Do Center richtet Schnuppernachmittage aus, die Caritas fährt mit Jugendlichen an den Bodensee. Die Pfiff GmbH verspricht spannende Tage auf dem Ferlhof in Hilgertshausen: „Ihr könnt Hühner, Esel, Ziegen, Schafe, Enten, Hasen, Katzen, Küken und das dicke Hängebauchschwein beobachten, streicheln oder füttern und auf dem Hof mitarbeiten.“ Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Die Ansprüche an Ferienprogramme sind nicht minder hoch, es geht um viel mehr als nur die reine Betreuung. Klar, Kinder sollen Spaß und einzigartige Erlebnisse haben, dabei gleichzeitig aber auch längerfristig in ihrer Entwicklung profitieren. Auf dem Schafflerhof zum Beispiel lernen die jungen Teilnehmer nicht nur, wie sie richtig mit Pferden umgehen, sondern ganz nebenbei übernehmen sie auch Verantwortung, sie üben sich in der Zusammenarbeit mit den anderen Kindern, sie lernen im Garten, welche Pflanzen man wann sät und wann diese wieder geerntet werden können, sie erfahren viel über Wildtiere, Nutztiere und Haustiere. Im Matratzenlager in den bunten Bauwagen können Schulklassen übernachten.
Die Seele baumeln lassen, sich einfach mal entspannen, Selbstbewusstsein tanken, Selbstvertrauen gewinnen und Spaß haben – das alles wird für Kinder und Jugendliche immer wichtiger. Viele von ihnen verbringen große Teile ihres Tages in der Schule oder im Hort. Ganztags ist Programm geboten, Zeit zum Ausbrechen oder Nichtstun fehlt meist. Und am späten Nachmittag oder gar am Abend stehen dann noch die Hausaufgaben an. Bewegung? Kommt in vielen Kinderzimmern kaum mehr vor, mit den bekannten Folgen. Mehr als jedes siebte Kind in Deutschland ist übergewichtig, wie eine Studie des Robert-Koch-Instituts im Frühjahr einmal mehr vorgerechnet hat. Demnach sind rund 15 Prozent der Kinder und Teenager zwischen drei und 17 Jahren zu dick. Fast sechs Prozent sind sogar fettleibig. Immerhin haben sich die Werte seit Beginn des neuen Jahrtausends nicht weiter erhöht – ein kleiner Erfolg. Zahlreiche Untersuchungen haben außerdem bewiesen, dass Kinder viel besser lernen, wenn sie sich bewegen, wenn sie ausgelastet sind und sie körperlich abreagieren können.
„In Zeiten des Ganztagsunterrichts ist es wichtig, dass Kinder auch Freiräume haben, in denen sie selbst entscheiden können, in denen sie kreativ werden können“, sagt Sozialpädagogin Maria Lindner vom Kreisjugendring München-Stadt. Freiräume, in denen nicht alles vorgegeben ist. Wenn sie mit Jugendlichen in der Natur unterwegs ist, so stellt sie fest, dass viele von ihnen noch nie gekocht oder abgespült haben. Das macht die Mama daheim oder der Geschirrspüler. Einige seien erstmals damit konfrontiert, dass sie Dinge teilen müssten, weil sie zu Hause keine Geschwister haben. „Aber alle lassen sich auf das Abenteuer ein“, sagt Lindner. Und das ist so spannend, dass die Handys plötzlich freiwillig in der Tasche gelassen werden.
Die All-inklusive-Programme haben freilich ihren Preis. Einzelne Kurse gibt es zwar schon von zwei Euro an. Mehrtägige Fahrten sind allerdings entsprechend teurer. Bis zu 200 Euro kann eine Woche kosten. Die siebentägige Fahrt in Dachaus Partnerstadt nach Fondi schlägt mit 290 Euro zu Buche, das Taschengeld nicht einberechnet. Auch wenn es für ärmere Familien öffentliche Zuschüsse gibt, summieren sich die Betreuungskosten, gerade wenn mehrere Kinder in den Ferien beschäftigt sein wollen. Und unter dem Jahr müssen Krippe, Kindergarten und Hort ebenfalls bezahlt werden.
Das stellt Familien durchaus vor große finanzielle Herausforderungen, gerade im Umland von München, in dem die Lebenshaltungskosten viel höher sind als in vielen anderen Teilen Deutschlands. Mehrere Hundert Euro im Monat müssen Eltern investieren, damit ihre Kinder gut aufgehoben sind, während sie selbst arbeiten gehen. Um Familien und Beruf besser vereinen zu können, lassen auch immer mehr Familien ihre Kinder außer Haus betreuen. Die Entwicklung der Betreuungsquoten im Landkreis Dachau, die das bayerische Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung jährlich erhebt, zeigt den steigenden Bedarf. War im Jahr 2007 gerade einmal jedes zehnte Kind unter drei Jahren in einer Krippe oder bei einer Tagesmutter untergebracht, so besuchte im Jahr 2017 schon fast jedes dritte Kleinkind eine Kita. In der Altersgruppe der Drei- bis Sechsjährigen ist die Zahl noch höher und ebenfalls steigend. 2007 gingen 89,2 Prozent in einen Kindergarten, 2017 waren es 95,8 Prozent.
In Bayern sind die Kommunen dafür zuständig, dass alle Eltern, die einen Betreuungsplatz suchen, auch einen erhalten. Das kostet die Städte und Gemeinden vor allem viel Geld. Denn die Elternbeiträge decken nur einen sehr kleinen Teil der Kosten. Jeder Betreuungsplatz beschert der Stadt Dachau ein Defizit von 3300 Euro – im Jahr.
Was die einen Kommunen sich nicht leisten können, ist in anderen kein Problem, was wiederum dazu führt, dass Familien in manchen Gemeinden ziemlich günstig wegkommen, was die Betreuungskosten angeht, und in anderen wiederum übermäßig viel zahlen müssen. In Unterföhring zum Beispiel bezahlen Familien seit Jahren schon nichts mehr. Die Gemeinde ist einer der wichtigsten Medienstandorte Deutschlands, dementsprechend hoch sind die Steuereinnahmen. Deshalb kosten Kitas dort für die Einheimischen keinen Cent.
Eine Kita zum Nulltarif – das wollte die SPD in der Landeshauptstadt München auch durchsetzen. Richtig weit ist die Fraktion bisher aber nicht gekommen. Das städtische Bildungsreferat stellte sich quer, fürchtete um staatliche Zuschüsse, und verwies darauf, dass ärmere Familien auch jetzt schon nichts bezahlen müssten. Aus der großen Reform wurde ein Reförmchen: Immerhin werden die Kita-Plätze für Familien günstiger, die weniger als 50 000 Euro im Jahr verdienen. Sonst wartet die Stadt wie alle anderen bayerischen Kommunen auf Freistaat und Bund. Denn beide Ebenen haben grundsätzlich in Aussicht gestellt, dass sie sich kostenfreie Kitas vorstellen könnten. Nur wer das finanzieren soll, ist bisher ungeklärt.
Viel Spielraum bleibt Städten und Gemeinden nicht. Sie sind rechtlich verpflichtet, ausreichend Plätze zu schaffen. Dafür gibt es Zuschüsse vom Freistaat, der wiederum die Rahmenbedingungen vorgibt. Nur wer ausreichend qualifiziertes und genügend Personal beschäftigt, bekommt eine Erstattung vom Land über das bayerische Kinderbildungs- und –betreuungsgesetz (BayKiBiG). Dieses soll einheitliche Standards sicherstellen. Seit 2013 herrscht zudem ein Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Das bedeutet, dass Familien klagen können, wenn ihnen kein angemessenes Angebot gemacht wird.
Ausufernde Kosten sind nicht das einzige Problem, mit denen fast alle Kommunen im Speckgürtel um München kämpfen. Gleichzeitig sehen sie sich mit einem massiven Bevölkerungswachstum konfrontiert. Während woanders ganze Landstriche veröden, ziehen in die Region vor allem junge Menschen, die nach der Familiengründung Betreuungsplätze benötigen. Und die sollen am besten nah am Wohnort sein. Kleinere Änderungen in Wohngebieten, zum Beispiel durch Nachverdichtung oder einen anderen Wohnungszuschnitt, können schnell zu einem ganz anderen Bedarf führen. Ein paar Kleinkinder mehr, und schon ist eine neue Krippengruppe nötig, weil nur zwölf Mädchen und Jungen in einer Gruppe betreut werden. Eine zusätzliche Gruppe aber bedeutet, dass mehr Personal in Zeiten des Fachkräftemangels gefunden werden muss.
Zumindest im Hort-Bereich deutet sich nun eine Lösung für die fehlenden Erzieher an. Im September startet das Kultusministerium ein bayernweit einzigartiges Modellprojekt an einer Münchner Grundschule im Stadtteil Perlach. Dort wird der Ganztagsunterricht von Schule und einem Träger, in diesem Fall der Arbeiterwohlfahrt (AWO), organisiert. Eltern erhalten eine ganztägige Betreuungsgarantie von der ersten bis zur vierten Klasse – flexibel bis 18 Uhr buchbar, auch freitags und in den Ferien. In diesem Modell arbeiten Lehrer und Erzieher gemeinsam, so soll der Fachkräftemangel bei den Erziehern abgefangen werden. Gleichzeitig teilen sich Stadt und Staat die Kosten, Eltern bezahlen maximal 150 Euro. Wenn sich dieser sogenannte kooperative Ganztag bewährt, soll er auf weitere Schulen in Bayern ausgeweitet werden. Das würde sich vor allem für die Kommunen anbieten, die schon jetzt mit hohen Kosten ihrer Horte kämpfen – denn künftig würde der Freistaat dann einen Teil davon übernehmen.
Gerade im Hortbereich gibt es auch den größten Nachholbedarf, wie die aktuellen Ereignisse in der Gemeinde Karlsfeld zeigen. Drei Monate vor dem Start ins neue Schuljahr ist die Sorge bei vielen Eltern groß, weil sie noch immer keinen Betreuungsplatz für ihre angehenden Erstklässler haben. Bei der letzten Bürgerversammlung waren fehlende Kapazitäten in Kindergärten und Horten das beherrschende Thema in der zweitgrößten Gemeinde im Landkreis Dachau. Dabei hat Karlsfeld sich in den vergangenen Jahren nicht ausgeruht. Etwa 1500 Kita-Plätze gibt es dort derzeit, vor zehn Jahren waren es gerade einmal halb so viele. Sechs Millionen Euro investiert die Gemeinde pro Jahr aus ihrer Kasse in den Kita-Bereich. Wahrscheinlich muss sie noch mehr Geld in die Hand nehmen. Woher das allerdings kommen soll, ist fraglich. Ebenso unklar ist, welche zusätzlichen Kapazitäten überhaupt nötig sind. Der große Zuzug und die hohe Nachverdichtung machten es schwierig, den Bedarf realistisch abzuschätzen, erklärt Bürgermeister Stefan Kolbe.
Weitergehen muss der Ausbau ohnehin. Denn bis spätestens 2025 soll es auch im Grundschulbereich einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung geben. Das hat die große Koalition den Eltern versprochen. Zwei Milliarden Euro wollen Union und SPD zur Verfügung stellen und gemeinsam mit den Ländern die vorhandenen Angebote ausbauen. Ziel sei eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, steht im Koalitionsvertrag.
Wenn Schulen dann auch in den Ferien eine Betreuung anbieten können, haben Eltern auch nicht mehr das Problem, wie sie 14 schulfreie Wochen überbrücken sollen. Die Träger der Freizeitangebote aber fordern schon jetzt, dass sie in künftige Pläne einbezogen werden sollen. Denn sechs Wochen Sommerferien im dunklen Schulhaus zu verbringen, entspricht nicht gerade den Traumvorstellungen der meisten Schüler. Dann schon lieber Bauernhof, Segelfreizeit oder Wandern in den Bergen. Oder der Schafflerhof in Jetzendorf, auf dem sich nach wenigen Stunden schon erste Erfolge zeigen. Der kleine Tarik zum Beispiel läuft ganz aufgeregt in den Garten, pflückt ein Blatt und steckt es sich in den Mund. „Das ist Minze, das kann man essen“, sagt der Grundschüler stolz. Gestern jedenfalls habe er die Pflanze noch nicht gekannt.
Melanie Staudinger befasst sich als Redakteurin im Ressort München, Region, Bayern der Süddeutschen Zeitung bereits seit vielen Jahren mit den Themen Erziehung, Bildung und Kinderbetreuung in und um München. Dabei hat die Dachauerin stets die aktuellen politischen Entwicklungen und pädagogischen Neuerungen im Blick.
Das aktuelle Ferienprogramm der Stadt Dachau, Möglichkeiten der Anmeldung und viele weitere Informationen finden Sie hier
Informationen zum Echo e.V. und das aktuelle Ferienprogramm finden Sie hier
[Ein Artikel aus unserem Hauspost-Archiv. Der Artikel erschien erstmals im Jahr 2018 in Hauspost Nr. 4]
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